Am 15. März ist Antje Vollmer verstorben. Ich muss zugeben, dass mich diese Nachricht doch mehr berührt hat, als es sonst der Fall ist, wenn ein Politiker stirbt, zu dem ich keine persönliche Beziehung habe. Bei Salvador Allende, Yitzhak Rabin oder Regine Hildebrandt war das anders - und bei Antje Vollmer ist es anders. Nicht nur, weil sie meinen politischen Kompass justiert haben, sondern weil sie eine Zeit lang eine wichtige Rolle in meinem Leben und Denken gespielt haben. Und wie es manchmal so ist, hat sich Antje Vollmer kürzlich wieder in meine Aufmerksamkeit geschrieben. 


Ihr Essay „Was ich noch zu sagen hätte“ vom 23.02.2023 in der Berliner Zeitung hat mich in der Tat erschüttert: „Alles, wogegen ich mein Leben lang politisch gekämpft habe, war mir in diesem Moment präsent als eine einzige riesige Niederlage.“ Eine solche Bilanz wenige Tage vor dem Tod ziehen zu müssen, ist bitter. Glücklicherweise gibt sie dem Status quo ein wenig Hoffnung zurück, aber dazu weiter unten mehr.

Sie erwähnt die USA kein einziges Mal in ihrem Artikel und lässt aktuelle Themen wie Nordstream 2 aus. Dennoch wird deutlich, was sie von der Nato und der derzeitigen deutschen Außenministerin hält: „Die Außenministerin ist die schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie.
Ihre Begründungen verblüffen durch argumentative Schlichtheit.“

Eigentlich wäre in diesem Blog kein Platz für eine politische Kolumne über deutsche Politik, denn hier geht es um China und seine Beziehungen zu Deutschland. Doch Antje Vollmer erwähnt China in ihrem Essay mehrfach explizit. Und legt damit den Finger in eine Wunde, die im Westen schon lange schwärt: „Dabei wachsen die Rüstungskosten und der Einfluss der Rüstungs- und Energiekonzerne ins Unermessliche. Der Krieg verschlingt sinnlos die Milliarden, die für die Rettung des Planeten und gegen die Armut des globalen Südens dringend gebraucht würden. Das aufsteigende China aber wird propagandistisch als neuer geopolitischer Gegner ausgemacht und in der Taiwan-Frage ständig provoziert. Das sind alles keine guten Auspizien.“

Und weiter geht sie auf eine historische Verantwortung und Schuld des Westens gegenüber Asien, Afrika, Australien und Amerika ein, die man in Europa und den USA medial ins Gegenteil zu verdrehen versucht - die „gelbe Gefahr“ (Spiegel) wird beschworen: „Die eilig ausgesandten Sendboten einer neuen antichinesischen Allianz im anstehenden Kreuzzug gegen das Reich der Mitte scheinen nicht besonders erfolgreich zu sein.

Wie konnten wir nur annehmen, dass das große China und die Hochkulturen Asiens die Zeit der willkürlichen Freihandels- und Opiumkriege je vergessen würden? Wie sollte der leidgeprüfte afrikanische Kontinent die zwölf Millionen Sklaven und die Ausbeutung all seiner Bodenschätze je verzeihen? Warum sollten die alten Kulturen Lateinamerikas den spanischen und portugiesische Konquistadoren ihre Willkürherrschaft vergeben? Warum sollten die indigenen Völker weltweit das Unrecht illegaler Siedlungen und Landraubs einfach beiseiteschieben in ihrem historischen Gedächtnis?

Was sich hier im Westen manifestiert, ist eine „zivilisatorische Kränkung“ (Mark Siemons). Plötzlich scheint man sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Der Westen ist gezwungen, mit der Dritten Welt - wie es noch vor kurzem hieß - auf Augenhöhe und fair zu verhandeln. Die aktuelle Außenpolitik Deutschlands und der USA zeigt, dass man dazu nicht bereit ist und lieber den halbtoten Gaul des überlegenen Westens reitet, der allen befiehlt, wo, wie und wann es lang geht. Aber das funktioniert nicht mehr - und wird nie mehr funktionieren.

Wie schon erwähnt, schließt Antje Vollmer mit einem Hauch von Optimismus: „Meine Hoffnung besteht darin, dass sich aus all dem eine neue Blockfreienbewegung ergeben wird, die nach der Zeit der vielen Völkerrechtsbrüche wieder am alleinigen Recht der UNO arbeiten wird, dem Frieden und dem Überleben des ganzen Planeten zu dienen. ... Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.

Ich könnte das jetzt etwas uninspiriert als Schlusswort stehen lassen, aber mich treibt an, dass unser drängendstes Problem, der Klimawandel, benannt werden muss. Der Kampf gegen diese reale Gefahr erfordert die Zusammenarbeit der gesamten Menschheit. 

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ein-jahr-ukraine-krieg-kritik-an-gruenen-antje-vollmers-vermaechtnis-einer-pazifistin-was-ich-noch-zu-sagen-haette-li.320443